Annika Nitsch
Regisseurin

The Turn of the Screw

Benjamin Britten

Konzept von Annika Nitsch und Linda Siegismund


Der Gruselklassiker „The Turn of the Screw“ von Henry James wurde 1898 veröffentlicht und lehrt dem Publikum seither das Fürchten. Basierend auf der literarischen Vorlage, komponierte Benjamin Britten 1954 die gleichnamige Oper, die bis heute fester Bestandteil im Opernrepertoire ist. Aber was will uns die Geschichte heute noch sagen bzw. was gibt uns heute Anlass zum Gruseln? Wenn man es genau nimmt, geht es in der Oper um Geschwister, die Vater und Mutter verloren haben. Außerdem gibt es anscheinend nur einen Verwandten, nämlich einen wohlhabenden Onkel, der gleichzeitig nach dem Tod der Eltern zum Vormund der Kinder ernannt wird. Dieser will jedoch nichts mit den Geschwistern zu tun haben und auch nichts von ihnen erfahren. Damit die Kinder aufwachsen können, werden Kindermädchen und Diener eingestellt, die die Waisenkinder betreuen sollen. Aber können Kindermädchen und Diener die Liebe der Eltern ersetzten? Was passiert psychisch mit einem Kind, wenn es die Eltern so früh verliert. Was passiert mit einem Kind, wenn es keine Aufmerksamkeit von der eigenen Familie erfährt? Was passiert mit einem Kind, wenn es das Gefühl hat nicht geliebt zu werden? Was passiert mit einem Kind, wenn es durch Gewalt erzogen werden soll? Was passiert mit einem Kind, wenn es sexuell Missbraucht wird? Dies sind gruselige Fragen mit denen man sich nicht gerne auseinander setzen möchte bzw. die man gerne verdrängt. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie sind die Fälle von Missbrauch und Gewalttaten gegen Kinder stark angestiegen, allein in Deutschland um 10%.  Immer mehr Kinder auf der ganzen Welt, sind davon betroffen. Einfach wegzuschauen und so zu tun, als wenn es diese Probleme nicht geben würde, kann nicht der richtige Weg sein. Auf all diese Psychischen und Missbrauchsprobleme von Kindern wollen wir in unserem Konzept aufmerksam machen.


Diese Fragen machen die Oper auch heute noch spannend und sollen das Publikum zum gruseln bringen.

Wir legen unseren Schwerpunkt klar auf die akute psychische Gestörtheit von Flora und Miles. Es ergibt sich, dass bei der Aufführung die Kinder auch definitiv mit Kindern besetzt werden müssen. Die Geschwister sind durch den Tod der Eltern traumatisiert. „Malo“ ist ein altes Kinderlied, welches die Mutter ihn zum einschlafen gesungen hat. Die Melodie erklingt, wenn Miles und Flora sich an ihre Mutter erinnern. Der einzige lebende wohlhabende Verwandte will nichts mit ihnen zu tun haben. Sie leben in einem großen, teuren Anwesen mit Park und See und bekommen alle materiellen Dinge zum Leben. Doch Kinder im gleichen Alter zum Spielen gibt es nicht. Die Vernachlässigung von Kindern unter Wohlhabenden Eltern ist ein weiteres häufiges auftretendes Problem, welches man heute oft nicht erkennt. Wie ist es in Familien, in denen eigentlich genug Geld, Zeit und Bildung vorhanden wäre? Gibt es Signale die auf eine Wohlstandverwahrlosung hindeuten? Der Begriff benennt Kinder und Jugendliche, die materiell überversorgt, emotional jedoch unterversorgt sind. Eltern, bzw. in diesem Fall der Vormund, lässt den Kindern zu wenig Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung zukommen. Die Erziehung fordert Engagement, das diese Eltern nicht aufbringen wollen oder können. Ihr schlechtes Gewissen kaschieren sie dabei mit großen Geschenken sowie vielfältigen Betreuungs- und Förderangeboten – in diesem Fall durch Kindermädchen und Diener. Oft sehen solche Familien nach außen intakt aus. Kennzeichen wohlstandsverwahrloster Kinder gibt es viele: Essstörungen, Drogenkonsum, Kauf- und Onlinesucht. Auch psychische Störungen wie Depressionen, Ängste und ADHS sind häufig die Folge.


Genau das ist die Ausgangssituation bei Flora und Miles. Sie haben alle materiellen Dinge, aber viel wichtiger ist es für sie geliebt zu werden. Aber sie  fühlen sich nicht geliebt. Sie fühlen sich minderwertig, wollen Zuneigung und Aufmerksamkeit. Wir sehen anhand von Flora und Miles die daraus resultierenden psychischen Probleme, mit denen Gewalt- und Missbrauchsopfer zu kämpfen haben.
Die meisten Opfer seelischer, körperlicher oder physischer Gewalt erhalten keine seelische Hilfe. Es wird gelebt, als wenn nichts gewesen ist. Die Kinder werden zum Opfer einer Gesellschaft, die wo sie kann, vertuscht oder verschweigt.
Psychisch kranke Kinder versuchen, sowohl durch positive als auch negative Handlungen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ihnen ist es dabei egal, welche Konsequenzen dies für die Außenwelt hat. Es projiziert sich meistens negativ. Sie übertragen ihre Erlebnisse, unbewusst oder bewusst, auf die Menschen um sie herum. Das Opfer wird zum Bösen. Können diese psychischen Störungen dazu führen jemanden umzubringen? Was passiert in einem Mörder?
Wir gehen davon aus, dass der Diener Miles sexuell Missbrauchte. Wir erfahren dies, angedeutet aus der Erzählung von Mrs. Grose, parallel wird man es auf der Bühne szenisch sehen. Miles bringt daraufhin seinen Peiniger mit einen Schlag durch ein Beil um, da er keine Hilfe von Mrs. Grose bekommt.


Außerdem gehen wir davon aus, dass Flora Miss Jessel getötet hat. Sie hatte keine Lust auf die Nanny, die den Platz der Mutter einzunehmen versucht, und  tötet sie deshalb aus Hass. Die Kinder hoffen auch, durch diese Taten, Aufmerksamkeit von ihrem Onkel zu bekommen. Aber anstatt mit ihnen über die Taten zu reden und ihnen zu helfen und ihre psychischen Probleme zu verarbeiten, bekommen sie ein neues Kindermädchen. Bevor sie erscheint, sehen wir, wie Mrs Grose durch körperliche Züchtigung, die Kinder ruhigstellt. Häusliche Gewalt ist völlig normal in dem Haus. Dann erscheint die neue Gouvernante. Für Flora und Miles ist klar, dass auch sie sterben muss. Nie wird sie die Lücke der Mutter einnehmen können. Wir sehen am Anfang jedoch, wie die Kinder freundlich zur neuen Gouvernante sind, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Dann erscheinen die Geister. Quint, um die Gouvernante zu erschrecken, damit sie verschwindet und nicht herausfindet, dass er Miles sexuell belästigt hat, Miss Jessel, um sie zu warnen, damit ihr nicht das gleiche Schicksal widerfährt wie ihr. Mrs. Grose erkennt die Geister, will aber nicht so richtig sagen, dass sie weiß, was in diesem Haus passiert ist. Sie behauptet, dass es die liebsten Kinder auf der Welt sind, um keine negative Aufmerksamkeit auf die Familie zu ziehen. Sie vertuscht gegenüber der Gouvernante sowohl die Taten von Quint, und wird dadurch zur Mittäterin, als auch die Taten der Kinder.
Im Laufe des Stückes wird es mehrere Mordversuche der psychisch kranken Kinder auf die Gouvernante geben. Die Kinder hoffen, dass die Gouvernante einen Brief an ihren Vormund schreibt, in dem sie beschreibt, dass die Kinder gestört sind. So erhoffen sie, endlich die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie brauchen.
Die Gouvernante ist jedoch überzeugt, dass die Geister Besitz von den Kinder ergreifen und diese zu bösen Taten zwingen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass Flora und Miles aus sich selbst heraus zu solchen Taten fähig sind. Doch die Kinder sind wahnsinnig, auch ohne das Zutun der Geister.


Die Kinder selbst haben Angst vor den Geistern. Nach den Morden werden sie von den Toten verfolgt. Diese wollen die Geschwister in der Nacht umbringen, können es jedoch nicht, da sie verlorene Seelen sind.
Weil die Gouvernante versucht die Kinder vor den Geistern zu schützen, damit sie nicht dem Vormund schreiben muss, merkt sie nicht, dass sie das eigentliche Ziel der Kinder ist. Miles gelingt es am Ende der Oper mit „Peter Quint, you devil“ den bösen Plan in die Tat umzusetzen. Er ersticht sie mit einem Messer und vollendet daraufhin den angefangenen Brief der Gouvernante, den der Vormund letztendlich erhalten wird. Sie stirbt und wird zu einem Geist, wie zuvor Miss Jessel und Quint. Ob sich die Geschichte wiederholt und was aus den Kindern wird, bleibt ungewiss.
Szenisch befinden wir uns in einer großen edlen viktorianisch wirkenden Villa, die aus einem großen Raum mit vielen verschlossenen Türen besteht. Es wirkt dadurch wie ein Gefängnis, in das die Kinder eingesperrt sind. Zeitlich ist es unbestimmt, ob es heute oder vor 100 Jahren spielt. Niemand der einmal in diesem Haus ist, kommt wieder heraus. Die Kinder werden immer in ihrer Gefühlswelt gefangen sein. Außerdem gibt es keine Fenster. Dies soll darüber hinaus, die Perspektivlosigkeit verdeutlichen in der die Kinder sich befinden. Sie sehen nicht was um sie herum geschieht und bleiben auf sich alleine gestellt. Alle Bewohner im Haus können ihre Taten vertuschen, ohne Angst zu haben, dass etwas in die Außenwelt gelangt. Andersherum kann niemand in das Haus hineinschauen und den Kindern helfen.
Im Raum selbst gibt es wiederum eine große schwebende Treppe, die im Kreis führt. Das heißt, man kann nie oben ankommen bzw. das Ziel „glücklich zu sein“, erreichen. Man dreht sich allenfalls im Kreis. Der Schwebezustand verstärkt zudem noch die Unsicherheit und Haltlosigkeit der Kinder. Darüber hinaus ist der Raum edel und schön möbliert.
Die Geister können außerhalb der Türen, hinter der Gaze, schwebend erscheinen. Sie sind die einzigen die durch die Wände von drinnen nach draußen und umgekehrt kommen (durch kleine Schlitze). Außerdem können sie die Treppen hoch und runter schweben lassen, sowie die Türen auf neue Positionen bringen, um zu verdeutlichen, dass sie wirklich spuken.

Für den Park fährt ein Baum aus dem Schnürboden in die Mitte des Zimmers. Der See wird durch eine schwarze Sandgrube dargestellt. In dieser hat Flora nach dem Mord die Leiche von Miss Jessel vergraben. Anstelle der Kirche erscheinen im Raum Gräber der Eltern aus der Unterbühne, um den Bezug der Kinder zu den Eltern zu verdeutlichen. Wir bleiben aber immer im gleichen Raum.
Die Kostüme sind klassisch modern und somit zeitlos. Alles spitzt sich zu ist unser Motto. Das spitze Element ist Leitträger und findet sich in allen Schnitten der modern gehaltenen Kostüme wieder. Um das Zeitlose widerzuspiegeln, sind klassische Formen und Details, wie Schlitze an den Ärmeln und Hosen, Stoffknöpfe an den Leisten, eine starke Silhouette, Falten in den Röcken und lässige Schleifen am Kragen, in jedem Kostüm eingearbeitet. Da Missbrauch immer und überall stattfindet, sollen sie sehr neutral gehalten sein, damit man sich mit den Personen identifizieren kann, obwohl es eine klassische Geschichte ist. Denn Missbrauch, Misshandlung und Verwahrlosung von Kindern geht uns alle an!


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